Erschüttert, beeindruckt und sehr bewegt können wir das Leben Margot Friedländers noch besser verstehen und ihre Lebensleistung würdigen. Als Vorsitzende des Stiftungsvorstands habe ich zur Begrüßung eine Rede gehalten. Hier ein Auszug aus der Rede:
Ich soll und möchte zur Begrüßung ein paar Worte an Sie richten, die Sie alle hierher gekommen sind, um gemeinsam mit der Protagonistin - oder sollte ich lieber sagen: Heldin?! - den Film „Ich bin Margot Friedländer“ zu schauen.
Margot kann viel besser über ihr Leben sprechen - das werden wir ja gleich einmal mehr erleben. Daher nur ein paar Bemerkungen meinerseits, die ich ja nun auch als Vorstand der Margot Friedländer-Stiftung hier vor Ihnen stehe.
„Versuche, Dein Leben zu machen“ - DAS ist das Vermächtnis, das ihre Mutter Margot hinterlassen hat, als sie zusammen mit Margots Bruder, ihrem Sohn Ralph, von der Gestapo abgeholt wurde.
„Versuche, Dein Leben zu machen“ - seit ich diesen Satz aus Margots Mund zum ersten mal hörte, geht er mir nicht wieder aus dem Kopf.
Wie viele Eltern wünschen sich das für ihre Kinder, wie viele - oder wenige? - sprechen es so explizit aus? Aber diese Mutter hat es in dieser ungeheuerlichen Situation ihrer Tochter Margot mit auf den Weg gegeben, den diese ohne sie, ohne ihre Mutter, gehen mußte…
Und was für ein unglaubliches Leben, was für ein in jeder Hinsicht großes, ja großartiges Leben, hat Margot aus diesem Erbe, mit diesem Wunsch ihrer Mutter im Gepäck gemacht!
Vorgestern konnten wir Margot Friedländers 102. Geburtstag feiern - sie mittendrin, blühend vor Begeisterung ob der vielen Freundschaften, die sie hier in Berlin in den vergangenen 14 Jahren geschlossen hat.
Margot Friedländer wurde in Berlin geboren, mußte sich vor den Nazis verstecken, untertauchen, wurde entdeckt, nach Theresienstadt verbracht, überlebte den Holocaust, emigrierte mit ihrem Mann (den sie in Theresienstadt geheiratet hatte) in die USA und kehrte 2010 nach Berlin zurück.
Seitdem erleben wir sie hier: wir erleben ihre unglaubliche Kraft, wir sehen ihren energischen Lebenswillen, wir werden Zeugen ihres Eifers, ihre Botschaften zu vermitteln - an junge Menschen, aber gerade auch an unsere/ an meine Generation.
Und wie dringend nötig dies ist, sehen wir in diesen Tagen und furchtbaren Wochen seit dem Hamas-Massacker in Israel ja leider ganz deutlich, gerade auch hier bei uns in Deutschland, in Berlin.
Das, was wir uns in der Politik, an den Schulen, in der Gesellschaft über Jahre hinweg erarbeitet haben an politischer Kultur, an Haltung, an Erinnerung - all das ist in einer Weise unter Druck, wie ich es mir noch vor wenigen Jahren nicht hätte vorstellen können.
Und die Vorgänge in der Welt, in Israel, aber auch hier in Deutschland, die offene Feindseligkeit gegen Juden, gehen mir sehr zu Herzen.
Die Erinnerung an den Holocaust und der Umgang damit sind zu einem Wesensmerkmal der deutschen Nachkriegsgesellschaft geworden. Sie sind ein Charaktertest unserer Demokratie und unseres Gemeinwesens. Es gilt, ihn neu zu bestehen - unter schlechteren Voraussetzungen.
Margot hat ihre Botschaft dazu vor kurzem in einem der zahlreichen Interviews, um die sie derzeit täglich gebeten wird, auf den Punkt gebracht:
„Ich appelliere immer wieder an die Menschlickheit. (Der Großangriff
der Terrororganisation Hamas) ist unmenschlich... ich kann mir nicht vorstellen, warum sie so hassen. Hass ist etwas Schreckliches. er bringt nichts. Er gibt euch nichts.“ Aus der politischen Debatte möchte sie sich raushalten; und vom Lager erzählt sie nie viel, das können man ja überall nachlesen.
„Ich spreche darüber, was menschlich ist. Und was ich hoffe. (…) Das, was war, können wir nicht ändern. Aber es darf nie wieder passieren.“ Wie sehr empfinden wir alle in diesen Tagen, daß dieses „Nie wieder“ JETZT ist… in Margots Worten: „Ich möchte, daß Ihr Menschen seid, die andere Menschen respektieren.“
Menschlichkeit - das ist die große Margot-Formel.
Wenn sie in den Schulen oder vor anderem Publikum ihre Geschichte erzählt, wenn sie über Rassismus und Antisemitismus aufklärt, dann mahnt sie am Ende immer mit dem einen Satz:
„Bleibt Menschen“.
Margot Friedländer ist eine der letzten Zeitzeuginnen weltweit.
Was ist, wenn sie alle nicht mehr da sind? Wenn sie nicht mehr zu uns sprechen können?
Wenn wir auf schriftliche Zeugnisse und auf Bildmaterial angewiesen sein werden?
Dann werden wir alle dankbar sein, daß es Filme gibt wie den, den wir gleich sehen werden - und daß wir Margot erleben durften und wissen, welches Erbe sie uns hinterlassen hat; was wir ihr schuldig sind, um ihr Vermächtnis weiterzutragen.
„Ihr werdet Euch wundern, daß ich zurückgekommen bin. Ich bin zurückgekommen, um Euch die Hand zu reichen. Damit Ihr die Zeitzeugen sein könnt, die wir nicht mehr lange sein können.“
Diesem Ziel, diesem Zweck ist auch die Margot Friedländer-Stiftung geschuldet.
Sie wird sich um diese nachträgliche Zeitzeugenschaft bemühen, den Namen Margot Friedländer in Ehren halten und ihr Vermächtnis pflegen.
Und das ist verdammt anspruchsvoll, denn Margot ist nichts weniger als
der lebende Beweis dafür, daß es Versöhnung geben kann.
Was könnte größer sein als das?
Als ihr im Januar dieses Jahres das Bundesverdienstkreuz erster Klasse verliehen wurde, hat Margot beinahe wie zu sich selbst - es war auch sehr leise, aber wir alle haben es gehört - gesagt:
„Hier bin ich geboren, hier will ich sterben, hier will ich beerdigt sein.
Es ist erstaunlich. Was für ein Leben.“
Wir verneigen uns vor Deinem Lebenswerk, wir verneigen uns vor Dir, liebe Margot!
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